Juli 2018
Flugblatt:  „In Oberschöneweide wohnen keine Menschen.“

Oberschöneweide als Berliner Silicon Valley an den Ufern der Spree:
das wäre der Traum von Planern, Politikern und Spekulanten.

Medien berichten über den alten Industriestandort, als wohnten hier keine Menschen, die   in einem adretten, sympathischen Viertel leben wollten. Sie schreiben vor allem über die Interessen von Gewerbetreibenden und Grundstücksspekulanten, die die Wirtschaftskraft und „Gentrifizierung“ der Stadt vorantreiben. Was bedeutet: die Bevölkerung soll gespalten werden. Die Reichen in die attraktiven Gebiete, der Rest soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.

Es gibt in Oberschöneweide einen „enormen Bestand an historischer Industriearchitektur“,   der unter Denkmalsschutz gestellt wurde. Doch das Denkmal besteht aus vielen alten Hallen, die heute verfallen sind und vor sich hin modern. Was macht man aus einem verfallenen Industriekomplex mitten in einer Wohngegend?

Erhaltenswerte Gebäude könnte man sanieren und Interessenten zur Verfügung stellen, die bereit wären, Arbeitsplätze zu schaffen, die mit einem Wohngebiet verträglich sind. Viele   aber müsste man abreißen, um Raum zu schaffen für neue Wohnungen, Grünanlagen und Spielplätze.

Von Meinungsführern des Viertels, unter denen kaum gewählte Politiker zu finden sind, wird diese naheliegende Idee verworfen. Wohnungen und Gewerbegebiet seien nicht vereinbar.  Teure Wohnungen, beteuern sie, würden nur die Gentrifizierung vorantreiben.

Das Argument ist vorgeschoben. Sind Politiker denn unfähig geworden, Rahmenbedingungen für preiswerte Wohnungen zu schaffen, um dem unerträglich steigenden Wohnungsproblem  der Gesellschaft energisch entgegenzutreten? Politiker des Bezirks  erwecken den Eindruck, gegen die Trends der Zukunft nichts ausrichten zu können.

Unter Zukunft wird unter den Wortführern nicht die Zukunft der Kinder verstanden, sondern allein die der Technik und Wirtschaft. Dass wirtschaftliche und humane Interessen weltweit immer mehr auseinanderdriften, scheint man in der deutschen Provinz noch nicht bemerkt zu haben.

Wer bietet am meisten? Das ist die Goldgräberstimmung in Oberschöneweide, die potente Investoren anlocken soll. Es wird nicht die Frage gestellt: was will die Bevölkerung, die vor allem aus vielen jungen Familien besteht, um ihren Kindern ein Umfeld zu bieten, in dem sie gerne aufwachsen? Es wird nicht die Frage gestellt: wie kinderfreundlich ist der Bezirk? Gibt es genügend Freiflächen, Spiel- und Sporthallen, in denen sich die Kinder nach Lust und Laune betätigen können? Es wird nicht die dringende Frage gestellt: wie müsste der Bezirk durchgrünt und durchlüftet werden, um gegen die kommende Klimaverschärfung  gewappnet zu sein?

Künstler werden als Lockvögel benutzt, um das Viertel aufzuwerten. Doch kaum steigen die Mietpreise, können sich junge Künstler nicht mehr halten. Übrig bleiben wenige international bekannte Künstler, die sich die wachsenden Kosten leisten können.

In Oberschöneweide hat sich eine Hochschule für Technik und Wirtschaft angesiedelt, die dem Viertel ganz neue Impulse verleihen könnte – wenn Studenten und Professoren für die Interessen der Bevölkerung aufgeschlossen wären. Davon kann keine Rede sein. Die Universität gibt sich wie ein akademisches Biotop, das nur seine eigenen Interessen verfolgt.

Beispiel: das Brachgelände am Ufer der Spree, das die Hochschule für sich reklamiert, um sich ausbreiten zu können. Das Gelände wäre eine ideale Grün- und Erholungsfläche für alle mit direktem Anschluss an die Spree. Eine ähnliche Fläche sucht man in OSW vergeblich. Der Platz am Kaisersteg, in hohem Maße geeignet für einen politischen Marktplatz, ist in einem trostlosen Zustand und zeigt in krassem Ausmaß das Desinteresse der Verantwortlichen an der Lebensqualität des Bezirks.

Klaus Semlinger, Präsident der Hochschule, kann über etwaige ökologische Interessen an der Brachfläche nur spotten: „Wenn es irgendwann endlich losgehen soll, wird man wohl eine geschützte Lurchart finden.“

Die etablierte Wissenschaft gibt sich in Oberschöneweide so selbstherrlich, als wären urbaner Städtebau und Ökologie nur lächerliche Ladenhüter von gestern.

Die journalistischen Artikel geben sich auf den ersten Blick sachlich. Doch die Sache, die sie ohne ein einziges Wörtchen der Kritik beschreiben, besteht einzig und allein aus den Interessen der Industrie und Bodenspekulanten. Zu Worte kommen in ihren Berichten fast keine Politiker – von engagierten Bürgern gar nicht zu reden. So entstehen geschönte Reportagen ohne jede kritische Resonanz.

Ein Bezirk wird verramscht unter Meistbietenden. Ein politisches Klima ist in Oberschöne-weide nicht zu bemerken. Mit wem immer man spricht, jeder klagt über Apathie und Resignation. Eben das ist der Wunschzustand für eine Politik, die an wachsamer Mitarbeit der Bevölkerung nicht mehr interessiert ist. Der Verfall der Demokratie ist in Oberschöneweide besonders deutlich zu spüren.

Wer etwas ändern will, darf sich von dieser bewusst gewollten demokratischen Verfalls-Atmosphäre nicht blockieren lassen. Die große Politik beweist jeden Tag mehr, dass sie unfähig und unwillig geworden ist, die Probleme der Welt zu lösen. Mündige Menschen lassen sich von dieser Inkompetenz der Führungsklassen nicht schrecken.

Sie wissen: Demokratie wird vor Ort verteidigt. Würde jeder Ort des Landes – oder gar der Welt – demokratisch werden, lebten wir noch lange nicht im Paradies. Aber der Mensch hätte sein Schicksal endlich in die eigenen Hände genommen.

Ein altes Arbeiterviertel wird verplant – ohne Mitwirkung der Bevölkerung. Geld, Technik  und Wissenschaften zeigen in Oberschöneweide ihre inhumanen Seiten in unverhüllter Dreistigkeit.

Wer sich dagegen wehren will, sollte sich beim Politischen Marktplatz melden. Gemeinsam könnten wir über die Frage nachdenken: Was können wir tun, um Oberschöneweide in einen  lebendigen demokratischen Ort zu verwandeln?

www.politischer-marktplatz.de

 

V.i.S.d.P.    Renate Auer   —   post@politischer-marktplatz.de    —  Juli 2018